Das Erste, was mir auffällt, ist, dass ich nichts denke. Seit 365 Tagen denke ich ununterbrochen über mein Leben nach. Wie es ist, wie es war, wie es sein wird. Die Gedanken begleiten mich in den Schlaf, sie summen nachts an meinem Ohr, sie sind vor meinem Bett versammelt, noch ehe ich die Augen aufschlage. Und nun sitze ich auf einer Düne an der Nordsee, meine Hände in den Sand gestützt, der Wind zupft an meinen Haaren, die Luft schmeckt nach Salz, mein Brustkorb weitet sich, ich atme aus. Das Meer liegt vor mir, ein silbriges weites Land, das kein Gestern und kein Morgen kennt - nur diesen einen Moment, der stärker ist als die Gedankenflut in meinem Kopf und dessen schimmerndes Bild eine wohltuende Leere auf meiner Netzhaut hinterlässt. Ohne den Blick abzuwenden, sage ich: »Es ist so schön hier. Danke!«
Johanna drückt kurz meine Hand. Sie sitzt schweigend neben mir und lächelt. Es war ihre Idee, hierher zu kommen. Alles mal hinter sich zu lassen. Ein paar Tage an diesem kleinen Ort am Meer, nur ein paar Tage. Und morgen habe ich Geburtstag. Den ersten nach der neuen Zeitrechnung. Johanna ist meine Freundin. Sie weiß, was mir gut tut, wenn ich selbst es nicht mehr weiß. Mit ihr wird das Chaos übersichtlicher. Das Schwere leichter. »Das Meer hilft immer«, sagt sie jetzt. »Du wirst schon sehen.« Ihre großen braunen Augen blicken zuversichtlich, dann nachdenklich. »Weißt du, ich würde immer hierher fahren, wenn es mir schlecht geht«, sagt sie. Und dann malen wir uns aus, dass wir, wenn eine von uns mal so richtig schlimm krank wird, ans Meer fahren, notfalls auch mit Schmerzmitteln im Gepäck, und unseren letzten Milchkaffee hier trinken, hier, vor diesem schimmernden Stück Ewigkeit, wo wir gelassen und heiter warten bis das Meer auch unsere Spuren sanft überspült hat und mit sich nimmt. Doch dieser Tag ist glücklicherweise noch in weiter
Ferne. Und es ist auch nicht der Grund, warum wir hier sind. Meine Freundin hat sich in den Kopf gesetzt, dass mein Leben sich ändern muss.
In der Ferne steigen ein paar Möwen in den blauen Himmel und ziehen ihre Kreise. Unter uns am Meeresrand gehen zwei alte Frauen barfuß und mit hochgekrempelten Hosen durch den nassen Sand. Sie gehen langsam, als ob sie alle Zeit der Welt hätten, man könnte glatt neidisch werden. Sie unterhalten sich, gestikulieren, manchmal bückt sich eine von ihnen und hebt etwas auf, wahrscheinlich eine Muschel.
So viel Zeit! Wenn ich an mein eigenes durchgetaktetes, hoffnungslos überfülltes Leben denke, das mir jeden Moment über den Kopf zu wachsen droht, nein, schon über den Kopf gewachsen ist, würde ich gerne tauschen. Sehnsüchtig blicke ich den beiden Alten hinterher.
Johanna hat sie auch gesehen. »Schau mal«, sagt sie und deutet auf die Frauen mit ihren runden Rücken und den zerzausten grauen Haaren. »Wir beide in vierzig Jahren. Friederike und Johanna. Wir gehen am Strand spazieren, ganz gemütlich, und unsere Männer sitzen in der Strandbude und trinken ein Heineken.« »Unsere Männer?«, frage ich. »Wovon sprichst du?« »Abwarten«, sagt sie.